Sehr geehrte Anwesende,
in seinem zur Weltliteratur zählenden Drama „Faust“ legte der Dichterfürst Goethe der Titelfigur des Universalgelehrten in der Szene „Osterspaziergang“ folgende Worte in den Mund:
„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
wenn hinten, weit, in der Türkei,
die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten
dann geht man abends froh nach Haus.“
Ich denke, Sie alle werden mir recht geben, eine solche Sichtweise auf das Zeitgeschehen, noch dazu aus dem Mund eines hochgebildeten Forschers, mag vor über 200 Jahren eine höchst fragwürdige Einschätzung aus abgehobener Perspektive und dem elitären Dünkel europa-zentrierter Überheblichkeit darstellen, für heutige Ohren klingt das Goethe-Zitat angesichts eines ganzen Ursachengeflechtes von Krisen und Konflikten in weiten Teilen der Erde wie blanker Zynismus!
Die in ihrer ganzen Tragweite noch gar nicht abschätzbaren Ereignisse des Jahres 2022 haben allen, die nicht Augen und Ohren vor der dramatischen Zuspitzung der Weltlage verschließen, brutal offenbart, welche Konsequenzen mit der durch den Angriffskrieg Putins gegen seinen ukrainischen Nachbarn entfesselten Aggression nicht nur für die von diesem völkerrechtswidrigen Gewaltakt unmittelbar betroffenen Menschen oder die weitgehend mundtot gemachte russischen Öffentlichkeit verbunden sind, sondern wie sehr auch die bisher nicht zuletzt in Deutschland für sicher geglaubte Stabilität der von uns eingegangenen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen nachhaltig erschüttert worden ist.
Dabei ist der medial seit neun Monaten omnipräsente Krieg in Osteuropa, der zunächst verschleiernd als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet werden sollte und als Vorwand für eine angeblich dringend gebotene Befreiung der Ukraine vom dortigen „Faschismus“ kaschiert wurde, gar nicht allein Ursache für die vielen Erschütterungen des sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Systems, in dem sich die Welt schon sehr lange einem immer konfliktträchtigeren Zustand entgegen bewegt.
Dieser Gesamtsituation gilt es anlässlich der heutigen Gedenkstunde zum Volkstrauertag Rechnung zu tragen und „gemeinsam Anstrengungen für den Frieden“ im Rahmen der gegebenen Bedingungen und Möglichkeiten zu beschwören. Frieden ist zwar nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts! – Sie kennen dieses Leitwort! Wer es noch nicht verstanden hat: In unserer globalisierten Welt hängt wirklich alles spürbar mit allem zusammen und bedingt sich gegenseitig. Denken wir nur an die ökologischen Auswirkungen des Klimawandels oder die weiterhin virulente Corona-Pandemie.
Für uns in Deutschland ist der Verlust des für selbstverständlich gehaltenen Wohlstands durch die massive Verteuerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten wegen der zunehmenden Verknappung der natürlichen Ressourcen, mit denen wir nicht selten gedankenlos verschwenderisch umgegangen sind, unterbrochene Lieferketten und eine allgemeine Verunsicherung besonders der gesellschaftlich ohnehin benachteiligten Schichten ein ernstes Signal für die vom Bundeskanzler so apostrophierte „Zeitenwende“, zu der sich eine Neuausrichtung der außen- und verteidigungspolitischen Positionierung im Rahmen von EU und Nato gesellt haben. Wir können uns aus dem weltpolitischen Geschehen in keiner Weise heraushalten, vielmehr haben wir nach zwei maßgeblich von uns selbst zu verantwortenden Weltkriegen die moralische Verpflichtung, aktiv an wirklich zielführenden friedenspolitischen Bemühungen mitzuwirken. Das ist aber leichter gesagt als getan!
Serhi Zadan, der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, stellte in einem Interview fest, die Realität habe einen, wie er es nennt, „verantwortungslosen Pazifismus“ verdrängt, weshalb sein Heimatland Ukraine vordringlich Waffen zur Verteidigung gegen den Aggressor benötige. Nur so könnten Frieden und Freiheit nach einer erhofften Einstellung der sinnlosen Zerstörung der Lebensgrundlagen langfristig hergestellt und in einen dauerhaften Aufbau, also wirklich „positiven“ Frieden verwandelt werden.
Putins Krieg ist nicht nur ein Vernichtungsfeldzug gegen die Unabhängigkeit des Nachbarn, sondern er zielt auf die Zerstörung dessen, was man „Zivilgesellschaft“ nennt. Sie zeichnet sich aus durch Pluralismus, Meinungs- und Informationsfreiheit, Achtung und Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte sowie Solidarität und Kooperation auf allen Ebenen, Idealen also, die jeder Diktatur fremd sind, sie geradezu bedrohen. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit sowie antidemokratische Bestrebungen jeder Art nehmen aber auch in einigen Teilen der BRD oder einzelnen Mitgliedsländern der EU in bedrohlichem Maße zu, Putins geistige Gefolgschaft beschränkt sich also nicht allein auf den innerrussischen Machtzirkel.
Wenn wir uns das klar machen, dann stellt die Bedrohung des inneren Friedens durch eine spürbare Radikalisierung in Teilen der Bevölkerung auch in Deutschland eine reale Gefahr dar, hält doch nur noch eine knappe Mehrheit die Demokratie, wie sie durch das Grundgesetz determiniert ist, für das erstrebenswerte Politikmodell.
Dabei können doch gerade wir hier in Krumbach die unverzichtbar positive Wirkung gut nachbarschaftlicher Beziehungen, des friedlichen Miteinanders über weltanschauliche, soziale oder auch herkunftsbedingte Unterschiede hinweg und der gegenseitigen Hilfsbereitschaft konkret wahrnehmen und bezeugen. Auf höchster Warte der Kirchturmspitze thront bei uns ein vergoldeter Engel. Für mich gibt es kein geeigneteres Friedenssymbol, unter das sich ein Ort stellen kann!
Zum Schluss muss ich dem Dichter Goethe unbedingt Gerechtigkeit widerfahren lassen, der sich zwar vornehmlich in einem der Aufklärung gemäßen, idealistischen Sinne als Weltbürger verstand, für den Harmonie und friedlicher Interessen-Ausgleich, wenngleich auf geistig-humanistischer Ebene, das wesentliche Element der menschlichen Vollkommenheit darstellte. Lüge, also jede Form von Fake News, waren bzw. wären ihm aber ein Gräuel und Krieg Ausdruck von verachtenswerter Dummheit. Wie weit sind die Ereignisse des Jahres 2022 von dieser Erkenntnis immer noch entfernt! Gottfried Tschöp
Fotos: Thorsten Ostriga